Ich weiß das alles,
dennoch rechne ich mit höchstens drei Stunden Wartezeit, denn - es
kann doch nicht sein, was nicht sein darf. Oben angekommen werde ich
sofort eines besseren belehrt: die Schlange beginnt an der Ecke
Richard-Strauss/Denningerstr., also ca. fünfhundert Meter vor dem
Konsulat. Tausende sind schon da, ältere, aber vor allem junge,
Arbeiter, LKW-Fahrer, Verkäuferinnen, Akademiker, Eltern mit
Kindern, Schwangere, Hundebesitzer – und ihre Vierbeiner. Eine
unglaubliche Menschenmenge, die nur eines will: Klaus Iohannis,
Sibius beliebten Bürgermeister, zum Präsidenten wählen. Ich stelle
mich an, halte es aber nicht lange an Ort und Stelle aus. Also gehe
ich auf und ab, auf und ab, bis zum Konsulat und wieder zurück,
diese Strecke werde ich zig Mal zurücklegen. Ich treffe Henny, die
schon seit 6.30 hier ist. Sie hat sich als freiwillige Helferin
gemeldet, verteilt Kugelschreiber und Formulare für jene
lächerliche, aber so zeitraubende Erklärung: daß man nicht schon
woanders gewählt hat. Als ob jemand nach stundenlangem Warten in,
sagen wir, München, hunderte Kilometer zurücklegen würde, um in,
sagen wir, Frankfurt, die ganze Prozedur noch einmal über sich
ergehen zu lassen! Wieder und wieder ertönen Buh-Rufe und Pfiffe,
wie Wellen setzen sie sich Reihe um Reihe bis ganz nach hinten fort.
Man skandiert. „Diebe, Diebe, wir wollen wählen!“, „Ponta lügt
uns an / Iohannis – unser Mann!“, „Wir wollen ein Land / wie im
Ausland!“ Man singt die Nationalhymne: „Erwache Rumäne...“ Und
fragt sich, ob dieser ganze Einsatz zu etwas nutzen wird. Eine junge
Frau in weißem Anorak erklärt einem Ehepaar, in gebrochenem Deutsch
und doch sehr eloquent, was „die Rumänen“ hier eigentlich
machen. Deutscherseits gibt es nur große Augen: „Ihr habt keine
Briefwahl?“ Die Sonne scheint, obwohl Regen angekündigt war. Wie
gut, wenn die Wettervorhersage falsch ist. Wird es die Wahlprognose
auch sein?
Gegen Mittag riegelt die
Polizei die Zufahrt zur Richard-Straus-Str. ab: wir haben mehr Platz,
können uns freier bewegen. Es geht nur mühsam voran. Manchmal
drei-vier große Schritte, dann: langer Stillstand. Je mehr man sich
dem Konsulat nähert, desto dichtgedrängter ist die Menge und
unübersichtlicher die Lage. Doch ich bin noch weit davon entfernt.
Stundenweit. Ein rumänisches Fernsehteam erscheint. Dann – das
ZDF. Eine junge Mutter, die seit sieben Uhr da ist und noch immer
nicht gewählt hat, spricht empört ins Mikrofon. Ich fragte die
Reporterin, ob sie denn weiß, dass Sigmar Gabriel vor einigen Tagen
seinem „Freund“ Victor Ponta seine Unterstützung öffentlich
ausgesprochen hat. Sie weiß es nicht. Schade. Denn diese
Unterstützung stellt, nicht zuletzt wegen Pontas Wahlallianz mit dem
rechtsextremen Antisemiten Corneliu Vadim Tudor, einen Verrat an die
Grundwerte der Sozialdemokratie dar.
16 Uhr 30. Es wird
langsam dunkel. Und kalt. Meine zwei belegten Brötchen habe ich vor
zwei Stunden gegessen samt den Bananen, die Henny mir überlassen
hat, als sie nach Hause gefahren ist, um sich auszuruhen. Mein Kreuz
schmerzt, die Beine brennen, eigentlich wünsche ich mir nichts
sehnlicher als einen Stuhl. Einen Stuhl, eine warme Suppe und eine
Weißweinschorle. Die Pizzeria gegenüber dem Konsulat ist aber
restlos überfüllt, keine Chance dort ein Plätzchen zu ergattern.
Eine andere zu suchen, dazu habe ich keine Kraft. Ich stoße langsam
an meine Grenzen, weiß nicht, ob ich durchhalten werde. Warum tue
ich mir das überhaupt an, was will ich beweisen, es ist doch
verrückt! Zum Glück gibt es Bäume, an denen man lehnen kann und
das Metallgeländer an der Tunnelüberführung. Doch meine Stimmung
bleibt düster. Ich betrachte die nunmehr leicht gebeugten, weil
frierenden Menschenreihen. Erinnern sie nicht an jene anderen, in den
Lagern? So wollen sie uns halten: hungernd und frierend, in
Abhängigkeit, in Dunkelheit! Da erinnere ich mich: daß ich deswegen
hier bin, damit das endlich aufhört! Dann ruft mich aus
Bukarest Madalina an: Ihr dürft nicht aufgeben, durch euch werden
die Leute hier mobilisiert, haltet durch, halte durch.
18.30: Henny ist wieder
da. Mit Bananen und Kinderschokolade. Ich verschlinge alles gierigst.
Dieser kleine Energieschub wird mir gleich sehr nützlich sein.
19.40: Seit einer guten
dreiviertel Stunde stehe ich keine zehn Meter vom Eingang des
Konsulats, in einem riesigen Menschenpulk zusammengepfercht, unfähig,
mich zu bewegen. Eigentlich stehe ich gar nicht mehr: der Druck der
anderen hält mich ein paar Zentimeter über den Boden – ich
schwebe! Wenn durch das Nadelöhr am Eingang ein paar Glückliche
durchgelassen werden, wogt die ganze Menge nach vorn, dann wird sie
von den (deutschen) Hütern des Eingangs zurückgeschoben. So
schaukeln wir hin und her. Am Anfang ist es noch irgendwie lustig,
doch je mehr man sich dem Eingang nähert, desto mulmiger wird es.
Der Druck nimmt zu, wenn man sich nicht rücksichtslos gegen Vorder-
und Hintermann stemmt, bekommt man kaum mehr Luft. Was, wenn ältere
Menschen hier wären? Sie könnten einen Herzinfarkt bekommen oder
einfach zerdrückt werden. Empörung steigt in mir auf. Wie können
sie es wagen, uns so zu behandeln? Diese Schweinehunde! Diese
Bestien! Ich weiß, dass ich bald explodieren werde. Als ich endlich
durch das Nadelöhr plumpse, zittere ich am ganzen Körper. Und
fluche – so wie nur Rumänen fluchen können. Im Konsulat ist die
Luft ziemlich schlecht, doch es geht relativ schnell. Ich muss etwas
unterschreiben (meine Hand zittert immer noch), dann bekomme ich den
Stempel. Ich drehe mich um und zähle: sieben Wahlkabinen, in der
Tat, nur sieben. Für all die Tausenden, die heute hier anstanden.
Dabei hätte, laut Bayrischem Fernsehen, die Stadt München explizit
weitere Wahllokale angeboten, die rumänische Seite dieses Angebot
jedoch abgeschlagen .
20.10: Ich habe gewählt.
Doch ich empfinde keine Freude, sondern nur Wut, maßlose Wut über
die maßlose Demütigung. Und breche in Tränen aus. Und fluche.
20.40: Endlich – ein
Stuhl, eine Weißweinschorle und Spaghetti al tartufo. Henny
tröstet mich. Sie sagt etwas über erste Ergebnisse und dass
Iohannis vorn läge. Doch noch bin ich nicht ansprechbar, glaube es
nicht recht.
22.00: Die Tore des
Konsulats sind seit einer Stunde geschlossen. 4080 Personen haben es
geschafft. Sie konnten ihre Stimme abgeben, hunderte andere jedoch
nicht. Doch jetzt hat Ponta - seine Niederlage eingestanden. Iohannis
wird Staatspräsident. Er hat haushoch gewonnen. Wir haben
gewonnen. Endlich kommt sie, die Freude!
Ist es zu fassen? Ihre
Rechnungen sind nicht aufgegangen. Die Verleumdungen, die Lügen, die
falschen Wahlversprechen haben nichts gefruchtet, ja, sie haben das
Gegenteil bewirkt. Auf die Grundsatzfrage: Rechtsstaat oder Willkür,
Normalität oder Korruption, Westen oder Osten, hat die
Mehrheit diesmal eindeutig Westen geantwortet. Diese Antwort
wurde gegen das gesamte Parteiensystem gesprochen, denn Iohannis ist
ein politischer Quereinsteiger, der erst vor anderthalb Jahren den
Nationalliberalen beigetreten ist. Vor allem jedoch – gegen jene
fast allmächtige und zutiefst korrupte Partei, die unter dem Etikett
„sozial-demokratisch“ die Verbundenheit zum alten System gepflegt
und schamlos die Feudalisierung des Landes betrieben hat. Deshalb
kann man ohne weiteres sagen, dass an diesem 16. November auf
friedlichem und ganz legalem Wege eine Revolution stattgefunden hat.
Rumänien ist erwachsen geworden.
Ioana Orleanu
Ioana Orleanu
Danke Ioana! Danke, dass du durchegahlten hast! Ich bin stolz auf dich!!
AntwortenLöschenDank für die Nachricht Ioana! Du warst eine Heldin! !! Mako
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